Schirrmacher veröffentlicht Folien zu seiner Tilman Geske Memorial Lectures
(Bonn, 22.09.2025) Am 10. April 2025 hielt Prof. Dr. Dr. Thomas Schirrmacher die Tilman Geske Memorial Lectures an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel unter dem Titel „Jesus als Märtyrer“ – Ein Vergleich zwischen dem christlichen und dem islamischen Märtyrer-Begriff“.
Aufgrund der lebhaften Diskussion und überarbeitete er in den letzten Monaten die beide Folien „Der extreme Gegensatz zwischen ‚Märtyrern‘ im Christentum und im Islam“ und „Stufen der Entwicklung von Theologie und Praxis der Selbstmordattentate in den letzten 45 Jahren“ und stellt sie jetzt zur Verfügung.
Folie: Stufen der Entwicklung von Theologie und Praxis der Selbstmordattentate in den letzten 45 Jahren
Vorgeschichte ab 1960: Man darf sich als Mann selbst mit dem kriegerischen Jihad gegen Ungläubige beauftragen und muss nicht – wie in den Jahrhunderten davor – auf einen Aufruf des Kalifen oder anderer Autoritäten warten.
Lehre islamistischer Strömungen des späten 20. Jh.
Vorgeschichte ab 1972: Arafat und die Palästinenser setzen Selbstmordattentäter ein, ohne dass dies eine religiöse Begründung hat.
Erstmals 1972 auf dem israelischen Flughafen Lod (erst ca. ein Jahrzehnt später übernimmt die Hisbollah das Vorgehen mit religiöser Begründung)
Vorgeschichte ab 1973: Der vorher weitgehend national ausgerichtete kriegerische Jihad wird zum transnationalen Jihad gegen alle Ungläubige.
Vorbereitet durch die Schriften der Muslimbruderschaft, endgültig seit den arabisch-israelischen Kriegen von 1967 und 1973.
Vorgeschichte 1980–1988: Minderjährige werden in den Jihad geschickt.
Irak-Iran Krieg 1980–1988: Kinder als Soldaten auf Befehl von Khomeini.
- Ab 1980: Man darf als erwachsener Mann Selbstmord begehen, wenn man dabei Ungläubige in den Tod mitnimmt.
1980 in Syrien gegen Regierung, ab 1980er (Hisbollah), 1983 Beirut, ab 1990er (Hamas u. a.), ab 2000 Tschetschenien.
- Ab 1981: Selbstmordattentate dürfen sich gegen als Ungläubige verstandenen Regierungen islamischer Staaten wenden.
1981 Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat, ab 1993 Hamas gegen Palästinensische Autonomiebehörde, ab 2002 Indonesien.
- Ab 1984: Selbstmordattentate sind als Teil des Kampfes gegen Ungläubige gewissermaßen ‚kanonisiert‘.
1984 in Palästina (Hamas), 1990er (Hisbollah), ab 2000 Tschetschenienkrieg.
- Ab 1990: Die Hinterbliebenen von Selbstmordattentätern sind zu ehren und finanziell zu unterstützen.
Am intensivsten bei der schiitischen Hisbollah seit den 1990er Jahren.
- Ab 2000: Minderjährige männliche Jugendliche und Kinder dürfen Selbstmordattentäter sein, in der Regel ab 12 Jahre.
Ab 2000 Intifada in Israel, ab 2010 „Islamischer Staat“.
- Ab 2001: Man darf auch dann Selbstmordattentäter sein, wenn dabei als Kollateralschaden (viele) Muslime sterben.
Zuerst in Palästina, dann am 11.9.2001, ab 2003 im Irak.
- Ab 2003: Man darf auch dann Selbstmordattentäter sein, wenn dabei nur Muslime (oder fast nur Muslime) sterben.
Ab 2003 im Irak.
- Ab 2002: Frauen dürfen Selbstmordattentäter sein, die zuvor nur als stolze Mütter der männlichen Selbstmordattentätern in Erscheinung traten.
2002 erstmals in Palästina.
- Ab 2011: Minderjährige Mädchen dürfen Selbstmordattentäter sein.
Ab 2011 im Irak, ab 2014 im großen Stil in Nigeria (Boko Haram).
Die Rechtfertigung von Selbstmordattentaten im Islamismus ist eine moderne Entwicklung, die noch anhält. Zwar gab es um Islam früher das Konzept des Märtyrers als Krieger, der im Jihad gefallen ist, ein Konzept, das es so im Christentum etwa nie gab (aber etwa im nationalen Gewand von europäischen Staaten oder etwa von Japan in den Weltkriegen), aber es war immer ein vom Oberhaupt – etwa dem Kalifen oder Sultan – ausgerufener Krieg, man starb im Kampf gegen Ungläubige und man versuchte natürlich, so lange wie möglich zu überleben, beging also eigentlich nicht Selbstmord. (Eine Ausnahme waren die Assasinen des 11.–13. Jh., von denen keine Linie zur Gegenwart führt.). Die Terrorattentate zur Zeit Arafats etwa konnten deswegen kaum religiös begründet werden und beinhalteten keine eigentlichen Selbstmordattentate. Erst im modernen Islamismus entwickelte sich das Konzept des Selbstmordattentates immer stärker in folgenden Stufen aus, die alle, die die letzten 45 Jahre die Medienberichterstattung verfolgt haben, selbst nachvollziehen können.
Kurzum: Ein Mädchen, das mit einer Bombe andere Muslime mit in den Tod nimmt, und deswegen als Märtyrerin gelobt wird, das wäre früher im Islam undenkbar gewesen, es ist vielmehr eine ganz neue theologische und dann auch praktische Entwicklung, die wenig mit dem vormodernen Islam gemeinsam hat.
Folie: Der extreme Gegensatz zwischen „Märtyrern“ im Christentum und im Islam
Christliche Märtyrer | Islamische Märtyrer |
Der Märtyrer erleidet das Martyrium passiv, er ist Opfer und Objekt des Handelns anderer | Der Märtyrer erleidet bzw. sucht das Martyrium aktiv, er ist Täter und Subjekt, wenn als Folge dann auch Opfer und Objekt |
Der Märtyrer handelt defensiv | Der Märtyrer handelt offensiv |
Der Märtyrer übt keine Gewalt, sondern erleidet sie, er verzichtet auf gewaltsame Selbstverteidigung | Der Märtyrer übt Gewalt oder plant Gewalt und wird Opfer der Gegengewalt |
Der Märtyrer wird ermordet | Der Märtyrer mordet oder will morden (und wird getötet) |
Der Märtyrer ist eine Stimme für das Leben und den Frieden | Märtyrer ist eine Stimme für Tod, Gewalt und Unfrieden[1] |
Der Märtyrer ist eine Stimme gegen die Sicht, Gewalt könne Probleme lösen | Märtyrer sind eine Stimme für die Sicht, Gewalt könne Probleme lösen |
Niemand anderes kommt durch den Märtyrer zu Schaden Manchmal wird dadurch das Leben anderer gerettet. |
Ein Martyrium gilt erst dann als solches, wenn andere dadurch zu Schaden kommen oder das zumindest das Ziel war |
Das Martyrium geschieht unfreiwillig und ungewollt | Das Martyrium geschieht freiwillig und wird aktiv gesucht |
Es ist moralisch verwerflich, das Martyrium zu suchen | Es ist moralisch geboten, das Martyrium zu suchen |
Der Märtyrer hat keine politischen Gründe und Ziele, auch wenn seine Mörder politische Motive haben können und das Martyrium enorme politische Konsequenzen haben kann | Der Märtyrer hat hochpolitische Gründe und Ziele und erhofft weitreichende politische Konsequenzen |
Das Martyrium ist normalerweise mit der Sicht verbunden, dass Staat und Religionsgemeinschaft getrennte Institutionen sind | Das Martyrium ist mit dem Gedanken verbunden, dass politische und religiöse Fragen nicht voneinander getrennt werden können |
[1] Die Täter des 11.9.2001 sagten das klassisch: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.“
Anmerkung: Es hat Zeiten gegeben, in denen Soldaten, die im Krieg gefallen sind, von ‚christlichen‘ Ländern mit dem Weihrauch des Märtyrers umgeben wurden, wie viele Kriegerdenkmäler beweisen. Ich habe diese irrige und missbräuchliche Vermischung von Kirche und Staat am Beispiel der Kapellen im Schloss von Edinburgh und im kanadischen Parlament kritisiert und mit dem japanischen Yasukunikult verglichen: „Soldaten als Märtyrer – in Tokio, Edinburg und Ottawa“. S. 81–102 in: Thomas Schirrmacher, Max Klingberg, Martin Warnecke (Hg.). Jahrbuch Religionsfreiheit 2020. VKW: Bonn, 2020. ISBN 978-3-86269-199-9.
In meinen Blog in drei Teilen:
- Gefallene Soldaten als Märtyrer in Gottes Sache? Erschreckendes in Edinburgh
- Nach Edinburgh und Tokio: Soldaten-als-Märtyrer-Verehrung in Ottawa
- Der japanische Yasukunikult – Soldaten als Märtyrer?
Downloads und Links
- Foto 1 und Foto 2: Thomas Schirrmacher während seiner Gastvorlesung © STH Basel
- Download der Folie „Stufen der Entwicklung von Theologie und Praxis der Selbstmordattentate in den letzten 45 Jahren“ (JPG) (PDF)
- Download der Folie „Der extreme Gegensatz zwischen ‚Märtyrern‘ im Christentum und im Islam“ (JPG) (PDF)
- Ankündigung der Veranstaltung und Fotogalerie der STH Basel sowie eine Audioaufnahme des Vortrags: https://sthbasel.ch/?p=17828